20 Jahre Galerie Arbeiterfotografie - Hans Peter Jost (Schweiz)
Baumwolle weltweit
(erschienen in der Zeitschrift Arbeiterfotografie, Ausgabe 93/94)

Es war „die Neugier zu dem Stoff, den ich seit meiner frühesten Kindheit auf meiner Haut trage.“ Hans Peter Jost wächst in einer Familie auf, die ein ehrfürchtiges Verhältnis zur Natur pflegt. Die Natur ist Nahrung, Kleidung und Medizin. Fünfzig Jahre später - nach der Bekanntschaft mit Materialien wie Metall, Maschinenöl, Holz und Ackerboden und - inzwischen durch den Schweizer Fotografen und Archivar Roland Gretler auch mit Papier, Apparaten und Chemikalien der Fotografie vertraut - reift der Plan zum großen Projekt Baumwolle.

Ist Baumwolle ein Stoff, aus dem Träume gesponnen werden? Träume von der Existenz, von Wohlstand, Träume von der Verwandlung der wolkigen Frucht in hartes, weißes Gold.

Wahr gemacht hat der Fotograf (mit Textautorin Christina Kleineidam) den Wunsch-Traum, eine Geschichte zu erzählen, wie es den Menschen, die mit der Pflanze in Berührung kommen, ergeht: von der archaischen Landwirtschaft zur hochtechnisierten Plantagenwirtschaft, von Analphabeten versus Genmanipulatoren, von Verschuldung und Subventionierung und - auf Druck des IWF - der zwangsweisen Rückführung aus staatlicher Hoheit in internationale Unternehmerhände: „Baumwolle kann uns viele Geschichten erzählen, die von Reichen und Armen handeln, sich mit Geschichte oder Wissenschaft, Politik oder Umwelt beschäftigen. Vor allem aber erzählt Baumwolle eine Geschichte über Globalisierung, denn jede Socke, jedes T-Shirt kann über ein globales Leben berichten. Das typische T-Shirt hat heutzutage mindestens drei Kontinente bereist. Vielleicht ist es auf einer Farm in Westtexas geboren worden, in einer der bedeutendsten Anbauregionen der Welt. Die Baumwolle reiste dann wahrscheinlich nach Asien, wo sie die unersättliche Textilindustrie in Garn, Gewebe und schließlich in Kleidung verwandelte. Der nächste Halt liegt wieder in den reichen Ländern, wo die Nachfrage nach Bekleidung ständig anwächst. Und selbst wenn es ausrangiert wird, setzt sich das globale Leben des T-Shirts fort. Die von uns weggeworfenen Kleidungsstücke tauchen oftmals auf Märkten und in Secondhandshops in Afrika auf, manchmal kommen sie auch nach China zurück, wo sie, in Streifen gerissen, zu Kissen und Teppichen verwebt werden, um dann wieder in unseren Breiten auf den Markt zu gelangen. So wird Baumwolle zu einem Mikrokosmos in unserer immer schneller globalisierten Welt", schreibt die Ökonomin Pietra Rivoli im Vorwort zu dem in zwei Ausgaben und zwei Sprachen erschienenen Buch.

Nach dreijähriger Recherche und Reisen rund um den Globus in sieben Baumwolle produzierende Länder, die eine markante Rolle in der weltweiten Baumwollproduktion, Weiterverarbeitung und dem Recycling spielen, wird das Konzept deutlich: in sieben Ländern werden sieben thematische Schwerpunkte beleuchtet.

Subventionspolitik und Standardbestimmung kennzeichnen die Perspektive in den USA. In Usbekistan, dem weiten Land des ehemals tiefsten Sees der Welt steht das Wasser im Mittelpunkt. Die weltreisenden Reporter auf den Spuren der wasserschluckenden Kulturpflanze erhalten die Auskunft: „Sie können nicht nach Mujnak, dort gibt es nicht einmal Wasser zum Trinken!“ In China ist es der Wirtschaftsboom, der in der Textilbranche junge Designer beschäftigt und sich bis Afrika als Fachkräfteexport auswirkt. Tansania ist Anbaugebiet für Biobaumwolle und zugleich Seconc-Hand-Markt ausrangierter Kleidung der Wohlstandsnationen. In Brasilien fokussieren die Autoren die Abholzung des Regenwaldes zugunsten landwirtschaftlicher Nutzflächen. Im afrikanischen Mali stehen die Frauen im Zentrum eines internationalen Förderprogrammes, das sie als Bäuerinnen und Kleinunternehmerinnen stärken soll. Es kommt ein Beigeschmack der Kolonisierung durch neomissionarische Hilfsorganisationen auf, denn die staatliche Baumwollgesellschaft CMDT war durch Schiedssprüche der WTO zur Reprivatisierung gezwungen. Dabei hatte Mali im Verbund von The Cotton 4 gemeinsam mit Burkina Faso, Tschad und Benin 2003 gegen die marktverzerrende US-amerikanische Subventionspolitik geklagt. Trauriges Schlußlicht im Traumkanon bildet Indien mit seiner steigenden Abhängigkeit von Terminator- (sich nicht reproduzierendem) Saatgut, im globalen Zwangsgriff der multinationalen Konzerne, allen voran Monsanto. Hundertsechzigtausend Selbstmorde von Bauern in zehn Jahren erregten weltweites Aufsehen. Auch hier könnte der Anbau von Bio-Baumwolle - also im Grunde der herkömmlichen Baumwolle - eine Chance darstellen sofern der total globale Freihandelskrieg dies zuläßt.

1991 fotografiert Hans Peter Jost Tagelöhner in Zürich, 1976 kommt er durch Kontakt mit dem heutigen Leiter des imposanten Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte, Zürich, Roland Gretler, in Berührung mit der Arbeiterfotografenbewegung, deren ehemalige Mitglieder des AFB (Arbeiter-Foto-Bund Zürich) zu dieser Zeit noch fotografisch aktiv sind. Gretler hat die Vorstellung, eine junge Generation (mit Uri Urech, Giorgio von Arb, Hans Peter Jost, Gertrud Vogler, u.a.) ins Leben zu rufen...

2007 nimmt Hans Peter Jost auf den Spuren der Baumwolle den Tagelöhnermarkt in Qingdao (China) ins Visier. Er wirkt als zumeist sichtbarer Fotograf, dessen Werk nicht von Schnelligkeit und Lautlosigkeit bestimmt wird (Hasselblad, teils aus der Hand, später mit Stativ). Seinen Bildern wohnt der Drang inne, mit allen vorhandenen Elementen zu gestalten. Es gelingen ihm faszinierende, oft metaphysische Darstellungen, in denen Traumfaktoren greifbar werden; menschliche Körper treten in akzentuierte Staffelung zur Natur oder dem Produkt, das sie ihr abgerungen haben. Als analytischer aber stets respektvoller Beobachter fixiert er nonverbale Vis-á-Vis, die mit ihren Blicken aus der Bildebene heraus den Betrachter durchdringen.

Anneliese Fikentscher


Hans Peter Jost (CH) im Rahmen von ‘20 Jahre Galerie Arbeiterfotografie’
Der Traum vom weißen Gold - Baumwolle weltweit
(erschienen in Lokalberichte Köln, 3.9.2010)

Ist Baumwolle ein Stoff, aus dem Träume gesponnen werden? Träume von der Existenz, von Wohlstand, Träume von der Verwandlung der wolkigen Frucht in hartes, weißes Gold. Wahr gemacht hat der Fotograf gemeinsam mit der Textautorin Christina Kleineidam seinen Wunsch-Traum, die Geschichte zu erzählen, wie es sein kann, dass ein T-Shirt in unseren Supermärkten nur 1,99 Euro kostet. Und wie es den Menschen ergeht, die mit der Pflanze in Berührung kommen: von der archaischen Landwirtschaft zur hochtechnisierten Plantagenwirtschaft, von Analphabeten versus Genmanipulatoren, von Verschuldung und Subventionierung und - auf Druck des IWF - der zwangsweisen Rückführung aus staatlicher Hoheit in internationale Unternehmerhände: „Baumwolle kann uns viele Geschichten erzählen, die von Reichen und Armen handeln, sich mit Geschichte oder Wissenschaft, Politik oder Umwelt beschäftigen. Vor allem aber erzählt Baumwolle eine Geschichte über Globalisierung, denn jede Socke, jedes T-Shirt kann über ein globales Leben berichten... Baumwolle (wird) zu einem Mikrokosmos in unserer immer schneller globalisierten Welt“, schreibt die Ökonomin Pietra Rivoli im Vorwort zu dem in zwei Ausgaben und zwei Sprachen erschienenen Buch. Die Aufnahmen des Schweizer Fotografen stammen aus sieben Ländern der Erde (China, Brasilien, Tansania, Mali, USA, Indien und Usbekistan), und sie laden dazu ein, seine gestalterisch ungewöhnlichen, zu Mensch und Situation stets respektvollen Perspektiven einzunehmen.

Impressionen aus der Ausstellung (Fotos von Andreas Neumann)


Siehe auch: Herbst 2010