Bilder von der Wende auf dem Lande
Jörg Boström, Herford
Bilder aus Brandenburg
Die Dörfer der Prignitz scheinen zwei Formen besonders auszuprägen. Da ist zunächst das langestreckte, um eine breite Straße angelegte Siedlungsgefüge aus kleinen, einstöckigen Ziegelbauten mit Mitteltüre. Die Bauweise erinnert an Siedlungshäuser der Bergarbeiter im Ruhrgebiet, besonders an Eisenheim. Offenbar war der brandenburgische Haustyp Vorbild für den Siedlungsbau der Zechen. Diese hatten doch wohl Landarbeiter aus dem Osten für den Untertagejob angeworben und durch heimatliche Strukturen des Wohnens seßhaft machen wollen. Die sehr breite Straße, deren Dimensionen durch die niedrigen Formen der langestreckten Landarbeiterhäuser noch ausgedehnter erscheinen, verbreitet sich zu einer Art Dorfanger, auf dem eine Kirche in Ziegel- oder Fachwerkbauweise sich erhebt. Diese wirkt weniger sakral. eher wie eine Kombination aus Feuerwehrhaus und Gemeindesaal. Wie der Superintendent von Bad Wilsnack nachprüfbar versichert, sind diese Kirchen in solcher Häufung Resultat einer Christianisierungspolitik seit Albrecht dem Bär, welcher die renitenten Wenden endgültig besiegte und ihnen die himmlische Botschaft mit Gewalt nahe zu bringen versuchte. So sind solche Kirchen Signale der ständigen Präsens der klerikalen Macht und Wachtürme des Herrn. Bespielbar sind die meisten solcher Gebäude weder heute noch in früherer Zeit, weil weder genügend geistliches Personal zur Verfügung steht und bezahlbar ist, noch die Anzahl aktiver Christen ausreicht, um alle heiligen Häuser zu beleben.
In Brandenburg kam das Gute schon immer von oben, wie ein längerer Blick in die Geschichte über die Wendenbekehrung, den Erziehungs- und Militarisierungsprozeß seit dem Großen Kurfürsten über Wilhelm dem I. zu Friedrich, die Aufklärung als Staatsdoktrin bis zu dem sozialistischen Sachsen Ulbricht , der, wie man mir sagt, eine späte Rache der Sachsen an den Preußen für den verlorenen Krieg ist. Nun wird den Brandenburgern der Kapitalismus und die Marktwirtschaft verordnet und sie werden auch dieses ergeben und sabotierend überstehn. Die Dorfstruktur entspricht dem Herrschaftssystem der Rittergüter, das große Bauernhöfe nicht kannte, wohl aber schloßartig, wenn auch verhältnismäßig sparsam gestaltete Herrensitze, auf die zu an der Kirche vorbei die Straße sich erstreckte wie eine Miniaturparadestraße und vor deren Freitreppe die ganze Geschichte gewissermaßen kehrt-schwenk-marsch wieder zurücklaufen konnte. Militärisches Denken scheint diesen Dorfstil bestimmt zu haben, was nicht wundern muß, wenn man weiß, daß solche Rittergüter nicht umsonst so hießen, sondern auch direckt als Gnadenerweis den erfolgreichen Generälen vom preußischen König übereignet wurden, wiederum selbstverständlich ohne die Bewohner zu fragen. Die Herren kamen von oben und blieben dort solange sie sich halten konnten.
In den Dörfern Grube und Vettin
Wir treffen beim Mittagessen - Lebensmittelladen im Herrenhaus - einen jungen Landarbeiter. Er war in der LPG beschäftigt und ist jetzt arbeitslos. Neben ihm am Spanplattentisch sitzt ein anderer Mann, der mit Fensterstreichen beschäftigt ist. Das Haus wurde lange Zeit als Schule genutzt. Jetzt wird es notdürftig renoviert - durch ABM - und soll als Unterkunft für Asylsuchende dienen. "Wir warten nur drauf", sagt der Jugendliche und spannt seine Muskeln. Das Herrenhaus liegt genau in der Flucht- und Blickrichtung des ganzen Dorfes. Deutlicher auf dem Präsentierteller kann man das Fremdenproblem nicht inszenieren. Ich frage mich, ob mehr Absicht, Unverständnis oder Notlage diese Regie bestimmen. Mangelnde soziale Sensibilität wäre noch die zurückhaltendste Erklärung. Der kräftige Junge trinkt sein drittes Bier und erzählt uns, daß es in der Zeit der LPG viel besser war. Man hatte Geld genug und konnte kaufen was man brauchte. Heute wird soviel angeboten, was man nicht braucht und man hat kaum Geld für das Nötigste. Jeden Tag steckte er Werbeprospekte in den Ofen. Es gibt nichts zu tun. Wenn die fremden Leute kommen wird es interessant. Wir wollen in die Kirche. Der Mann, der die Fenster streicht, ist hilfsbereit. Er greift sein altes Fahrrad und flitzt zum Pfarrer. Der ist nicht aufzutreiben aber seine Tochter schließt uns auf, will aber vorher Ausweise und Projektbescheinigungen sehn, als ob das Allerheiligste ein Staatsgeheimnis berge. Sie betreut einen Kinderhort. Streit mit westdeutschen Kindergärtnerinnen hätte sie gehabt. Sie hätten hier doch, hätten diese gesagt, ein reines Kinder KZ. Aufs Töpfchen gemeinsam. Im Westen dürfe jeder scheißen wann er will. Entsprechend flegelhaft seien die Kinder. In der Schule gingen sie ja über Tisch und Bänke. Nein, Ordnung müsse sein, man könne nicht alles aus dem Westen einfach für besser halten.
Auf einem frisch beplatteten Gehweg geht vorsichtig am Stock ein alter Mann mit Mütze und Tasche. Wir fotografieren ihn, lernen dabei auch seinen Enkel kennen, der ihm entgegengeht. Das Kind führt uns mit seinem Freund die alten Gebäude der LPG vor. Eine zusammengedrängte Rindergruppe ist der Rest des 2000 Stück Bestandes. Die Kinder rennen durch die leeren Stallungen, klettern über niedergerissene Mauern und verschwinden hinter Türen mit Aufschriften wie Desinfektionsmittel, Nicht ohne Schutzmaske betreten usw. Zuletzt rennen sie vor uns her über eine BLumenwiese auf einen Steinschuppen zu Sie geben sich geheimnisvoll, öffnen die Tür und lassen in der Dämmerung des Innenraums den Blick frei auf verwesende Tierkadaver, Schweine und Rinder. Der Gestank erschwert das Atmen und Fotografieren. Die LPG entläßt ihre Arbeiter, Kinder und Tiere...