Stuttgart, 26.-28.11.2010 - Palästina-Solidaritätskonferenz "Getrennte Vergangenheit - Gemeinsame Zukunft"Bilder

Frieden und Existenzrecht für Israelis und Palästinenser

Was mit der vom 26. bis 28. November 2010 in Stuttgart durchgeführten Palästina-Konferenz deutlich geworden ist - von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann

Es herrscht weitgehendes Einvernehmen darüber
  • dass, wenn es überhaupt eine Lösung gibt, nur eine Ein-Staaten-Lösung wie in Südafrika Frieden und Gerechtigkeit für Israelis und Palästinenser bringen kann
  • dass dieses Ziel nur erreichbar ist, wenn durch Boykott und andere gewaltlose Maßnahmen weltweiter Druck auf Israel ausgeübt wird
  • dass keine Zeit zu verlieren ist, denn jeden Tag gehen ethnische Säuberung und Slow-Motion-Genozid weiter
Israel ist ein rassistischer, die Menschenrechte missachtender Apartheid-Staat, dem es von Anfang an nicht um Integration und Frieden gegangen ist, sondern im Rahmen eines imperialistischen Projekts um die gewaltsame Beseitigung der palästinensischen Bevölkerung. Seit 1948 hat sich Israel planmäßig und systematisch mehr und mehr palästinensisches Land angeeignet und mit Siedlungen durchsetzt, so dass heute nur noch kleine palästinensische Inseln existieren, die in dieser Form nicht lebensfähig sind.



Zu fordern ist deshalb nicht das Existenzrecht des Staates Israel, sondern das Existenzrecht für Israelis und Palästinenser in gleicher Weise. Eine Zwei-Staaten-Lösung brächte keine gleichberechtigte Teilhabe an den Ressourcen des Landes und keine gleichen Rechte und Chancen für Alle, insbesondere nicht für die (noch) auf israelischem Gebiet lebenden Palästinenser. Die Zwei-Staaten-Lösung wäre der letzte Schritt auf dem Weg zur vollständigen ethnischen Säuberung Israels. Eine Lösung kann deshalb nur in einem gemeinsamen säkularen, demokratischen Staat bestehen, in dem alle Menschen - Israelis und Palästinenser gleich welcher Religion und Herkunft - gleichberechtigt zusammenleben.

Für die Erreichung des Ziels eines gemeinsamen Staates für Alle reichen keine Erklärungen, Demonstrationen und Sympathiebekundungen. Dafür bedarf es Formen internationaler Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung, die Israel spürbar unter Druck setzen. Aus eigener Kraft kann sich die palästinensische Bevölkerung aus den Lagern, den Enklaven der Westbank und dem Freiluftgefängnis Gaza nicht befreien. Wie der erfolgreiche Kampf gegen die Apartheid in Südafrika gezeigt hat, bedarf es weltweiter Boykottmaßnahmen und anderer gewaltloser Maßnahmen, die die israelische Wirtschaft spürbar treffen.

Insbesondere Friedensbewegung und Linke müssen sich in ihrer Gesamtheit diese Positionen zu eigen machen. Jeder muss ohne Zeitverzug alles unternehmen, was in seiner Macht steht. Wir dürfen nicht darauf warten, dass Israel von sich aus kollabiert. Jeder Tag Verzug kostet die Vernichtung menschlicher Existenz. Bei allen Initiativen, die unternommen werden, darf nicht der Eindruck entstehen, als handele es sich um einen Konflikt zwischen zwei gleichwertigen Kontrahenten. Fakt ist die absolute Übermacht israelischen Militärs über eine fast wehrlose palästinensische Bevölkerung. Ziel muss es sein, Menschen weltweit schnellstmöglich aufzuklären und zu mobilisieren.

Insbesondere wir Deutsche haben die Pflicht, Stellung zu beziehen. Deutschland hat eine Mitschuld am Entstehen Israels und dem damit verbundenen Schicksal der palästinensischen Bevölkerung. Der zu erwartende erneute Vorwurf des Antisemitismus muss energisch zurückgewiesen werden. Eine Verurteilung von Verbrechen ist kein Antisemitismus. Die Lehre, die wir aus unserer Vergangenheit ziehen müssen, besteht darin, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit generell zu verurteilen sind, wo immer sie geschehen.


Stuttgarter Erklärung "Gleichheit – oder nichts" (Edward W. Said)

Schlussdokument der Palästina-Solidaritätskonferenz 'Getrennte Vergangenheit - Gemeinsame Zukunft' - Stuttgart, 26.-28.11.2010 - getragen von den Organisatoren sowie den unterzeichnenden Konferenz-TeilnehmerInnen und UnterstützerInnen

Vom 26. bis 28.11.2010 kamen in Stuttgart über 200 TeilnehmerInnen zu einer „Palästina-Solidaritätskonferenz“ zusammen. Thema der dreitägigen Konferenz mit dem Titel „Getrennte Vergangenheit – Gemeinsame Zukunft“ waren „Hindernisse und Perspektiven für eine gerechte Lösung“ des Konflikts zwischen dem Staat Israel und den PalästinenserInnen.

ReferentInnen waren der israelische Historiker Prof. Ilan Pappe von der Universität Exeter (GB), Prof. Haidar Eid von der Al Aqsa Universität Gaza, Prof. Mazin Qumsiyeh von der Birzeit Universität Ramallah, der Mitbegründer des Internetportals Electronic Intifada Ali Abunimah, die palästinensische Aktivistin Lubna Masarwa, der Hamburger Völkerrechtler Prof. Norman Paech, die Publizistin und Menschenrechtsaktivistin Evelyn Hecht-Galinski, Annette Groth von der Linksfraktion des Bundestags, der Rechtsanwalt Jörg Lang, und Attia Rajab sowie Verena Rajab vom Palästinakomitee Stuttgart. Der Jazzmusiker Gilad Atzmon unterstützte die Konferenz mit seinem Grußwort. Die Schauspielerin Julianna Herzberg und Samir Mansour mit seinem Ensemble Layalina gestalteten den Kulturabend. Schirmfrau war die israelisch-deutsche Rechtsanwältin und Menschenrechtlerin Felicia Langer.

Die KonferenzteilnehmerInnen aus England, Frankreich, Österreich, der Schweiz, Schweden, USA und der BRD verständigten sich auf Strategien und Zielvorstellungen, die sie gemeinsam verfolgen wollen.

Die große Mehrheit stellte fest, dass das dogmatische Festhalten an der Zwei-Staaten-Lösung die tatsächlichen Realitäten ignoriert und von einer falschen Parität zwischen einer kolonialisierten und besetzten Bevölkerung auf der einen Seite und einem Kolonialstaat mit seiner militärischen Übermacht auf der anderen Seite ausgeht. Dies propagiert fälschlicherweise die Möglichkeit einen Frieden zu erreichen, indem den in den 1967 besetzten Gebieten lebenden PalästinenserInnen begrenzte nationale Rechte zugestanden würden, während den in den Grenzen von 1948 lebenden und den vertriebenen Menschen ihre Rechte verwehrt würden.

Das Festhalten an der Zwei-Staaten-Lösung verurteilt die PalästinenserInnen mit israelischer Staatsangehörigkeit dazu, als Bürger zweiter Klasse in ihrem angestammten Land zu leben, in einem rassistischen Staat, der ihnen nicht dieselben Rechte wie den jüdischen BürgerInnen gewährt. Außerdem würde das Fortbestehen eines zionistischen Staates den palästinensischen Flüchtlingen aus dessen Territorium das international anerkannte Recht auf Rückkehr verwehren.

Die Zwei-Staaten-Lösung kann zu nichts anderem führen als der Vertiefung und Zementierung der Ungleichheit. Das Modell zweier nach Ethnien oder Religionszugehörigkeiten getrennter Staaten bedeutet ethnische Separation oder fundamentale Ungleichheit innerhalb dieser Staaten, wie wir dies im heutigen Israel erleben.

Die Ausführungen Ilan Pappes und der palästinensischen ReferentInnen belegten schlüssig, dass der bisherige sogenannte Friedensprozess und die Verhandlungen nur einen Deckmantel für Israels Fortsetzung des Landraubs und der Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung abgegeben haben.

Am Ende der Diskussion bestand weit gehendes Einvernehmen darüber, dass nur die Schaffung eines gemeinsamen, säkularen und demokratischen Staates auf dem historischen Palästina mit gleichen Rechten für alle Frieden und Gerechtigkeit für PalästinenserInnen und Israelis bringen kann - ein Staat, in dem alle Menschen, gleich welcher Religion und Herkunft, gleichberechtigt zusammenleben. Dies schließt selbstverständlich die aus dem Land vertriebenen PalästinenserInnen mit ein (Einlösung der Resolution 194 der UN-Vollversammlung).

Nach wie vor dulden oder unterstützen die maßgeblichen Mächte, vor allem die USA und die EU-Staaten die anhaltenden Verstöße Israels gegen internationales Recht und die Missachtung sämtlicher UN Resolutionen, die die koloniale und diskriminierende Politik Israels als illegal verurteilen. Die Regierungen der USA und der EU tolerieren die ständigen Angriffe auf die palästinensische Bevölkerung und ihre Wohngebiete. Besonders das totale Versagen der „internationalen Gemeinschaft“ während des israelischen Massakers in Gaza im Winter 2008/2009 machte vielen klar, dass allein der Druck zivilgesellschaftlicher Initiativen weltweit eine Änderung der Politik Israels und seiner UnterstützerInnen erzwingen kann.

Die Politik der Aushöhlung des internationalen Rechts durch die israelischen Verbündeten betrifft besonders die Bundesrepublik Deutschland, deren Regierungen, Parteien, Gewerkschaften und Medien, die auf ein enges Verhältnis zu Israel eingeschworen sind. Diese billigen Israels Politik der Menschenrechtsverletzungen stillschweigend und befürworten diese teilweise sogar.

Eines der aktuellen Beispiele für die Verbindung der Bundesrepublik Deutschland mit dem Apartheidstaat Israel ist die Beteiligung der Deutschen Bahn am Schnellbahnprojekt zwischen Tel Aviv und Jerusalem, das durch das Gebiet der Westbank führt, wozu das Land der dortigen Bevölkerung enteignet werden müsste, während die Palästinenser der Westbank gleichzeitig von der Nutzung der Bahn ausgeschlossen würden. Ein weiteres Beispiel ist die deutsche Unterstützung der Aktivitäten des Jewish National Fund, einer zentralen zionistischen Institution, die die Apartheid im Staat Israel sichert. Gegenwärtig vertreibt der Jewish National Fund mit seinem Aufforstungs- und Siedlungsprojekt im Negev PalästinenserInnen von ihren angestammten Gebieten, wie das Beispiel des Dorfes von Al Arakib bei Beer Sheva deutlich macht, das vor kurzem zum siebten Mal durch israelische Sicherheitskräfte zerstört worden ist.

Die KonferenzteilnehmerInnen haben Mittel und Möglichkeiten diskutiert, wie unsere Basisbewegungen in Richtung einer gemeinsamen Zukunft von PalästinenserInnen und Israelis auf der Grundlage der Gleichberechtigung wirksam werden können. Die Hindernisse sind hoch, da es mächtige Interessen für die Beibehaltung der Rolle Israels als imperialem Vorposten Europas und der USA sowie deren wirtschaftlichen und strategischen Interessen gibt. In dieser Rolle wird Israel freie Hand gegeben, Menschenrechte und internationales Recht zu brechen und auszuhöhlen.

Das wirkungsvollste Mittel ist die nach dem Vorbild des erfolgreichen Kampfes gegen die Apartheid in Südafrika organisierte Boykott-Kampagne. Die Konferenzteilnehmer -Innen erzielten Übereinstimmung über die dringende Notwendigkeit auch von Deutschland aus die internationale Kampagne für Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS) gegen Israel zu unterstützen.

Sie schlossen sich damit dem von nahezu allen palästinensischen Zivilorganisationen getragenen Appell an, die diskriminierende und kolonialistische Politik der israelischen Regierung zu boykottieren und Druck auf unsere jeweiligen Regierungen und die Wirtschaft auszuüben, Embargos und Sanktionen gegen Israel zu erlassen. Boykottmaßnahmen und Desinvestment sind auch Gegenstand des von palästinensischen Christen im Dezember 2009 verabschiedeten Kairos-Papiers sowie des Kairoer Appells durch den internationalen Gaza Freedom March von Anfang diesen Jahres.

Bei dieser Kampagne darf keine Zeit verloren werden, denn jeden Tag gehen die ethnische Säuberung in Palästina und der langsame Genozid an der Bevölkerung Gazas durch die menschenrechtswidrige Blockade weiter. Viele sind bereits gestorben und sterben täglich, weil ihnen die Ausreise zur medizinischen Behandlungen verwehrt wird. Die Verseuchung von Boden und Wasser durch die Hinterlassenschaft des Krieges gegen Gaza führt ebenfalls zu Krankheiten und Tod.

Die Kampagne bietet viele Möglichkeiten, sich als Teil eines bereits sehr erfolgreichen weltweiten Netzwerks von Solidaritätsgruppen, Gewerkschaften, antirassistischen Initiativen, globalisierungskritischen Gruppierungen, kirchlichen Gruppen, kritischen jüdischen und palästinensischen Vereinigungen und linken Parteien, überall dort aktiv einzuschalten, wo wir faktisch mit den Machtstrukturen, Institutionen und Politikern verbunden sind, die die Ungleichheit praktizieren und verfestigen. Überall da gilt es diejenigen, die vom israelischen Apartheidregime profitieren, zur Verantwortung zu ziehen. In Deutschland müssen wir uns ganz besonders der militärischen und so genannten Sicherheits-Kooperation mit Israel entgegen stellen.

„Diese gewaltlosen Strafmaßnahmen müssen“, so heißt es im Appell vom 9. Juli 2005 (Palestinian United Call for BDS against Israel), „solange aufrechterhalten bleiben, bis Israel seiner Verpflichtung nachkommt, den PalästinenserInnen das unveräußerliche Recht der Selbstbestimmung zuzugestehen, und zur Gänze den Maßstäben internationalen Rechts entspricht“.

Folgende Punkte müssen verwirklicht werden (Zitat aus dem Appell)
  • „Das Ende der israelischen Besatzung und der Kolonialisierung allen arabischen Landes wie auch der Abbau der Apartheid-Mauer
  • Israels Anerkennung der fundamentalen Rechte der arabisch-palästinensischen Bürger Israels zu voller Gleichberechtigung und
  • Israels Respekt, Schutz und die Unterstützung der Rechte der palästinensischen Flüchtling, in ihre Häusern und zu ihrem Eigentum zurückzukehren, wie es in der UN Resolution 194 vorgesehen ist“.
Die internationale BDS-Kampagne richtet sich selbstverständlich nicht gegen JüdInnen und auch nicht gegen israelische BürgerInnen als solche, sondern allein gegen die Unterdrückungspolitik eines Staates und gegen die Firmen und Institutionen, die an der Besatzung beteiligt sind, sie unterstützen oder davon profitieren. Sie wird daher von zahlreichen jüdischen Organisationen wie auch israelischen Persönlichkeiten unterstützt.

Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind der Schlüsselweg, bei dem jeder – wie früher gegen das südafrikanische Apartheidregime – mithelfen kann, wirtschaftlichen und moralischen Druck aufzubauen. Die BDS-Kampagne hat vor allem eine große symbolische Wirkung, indem sie der israelischen Bevölkerung den Spiegel vorhält und sie mit der Tatsache konfrontiert, dass immer mehr Menschen auf der Welt die Politik ihres Staates als verbrecherisch ansehen.

Die zahlreichen Versuche von PalästinenserInnen, Israelis und internationalen Gruppen, die völkerrechtswidrige Blockade Gazas zu durchbrechen, stellen genauso wie BDS eine Methode dar, Unrechtsstrukturen und die Isolierung der Unterdrückten zu durchbrechen.

Die KonferenzteilnehmerInnen setzen sich dafür ein, dass weitere Freedom Flotillas und massive Aktionen zu Land und zu Wasser Blockade und Besatzung Gazas und der Westbank beenden.

Die Teilnehmer der Stuttgarter-Konferenz setzen sich außerdem ein für:
  • Die Freilassung der über 10.000 palästinensischen politischen Gefangenen, insbesondere der Frauen und Kinder sowie der ParlamentarierInnen
  • Die Beendigung der israelischen Siedlungspolitik und die Rückgabe des geraubten Bodens
  • Die Aufhebung aller Barrieren, Check -Points und Apartheidmauern in Palästina
  • Den Stopp der Häuserzerstörungen in der Westbank, in Jerusalem, im Negev, in Galiläa und im ganzen Land
  • Die Aberkennung der Gemeinnützigkeit des Jewish National Fund (JNF) in Deutschland, da es sich um eine Apartheidorganisation des Staates Israel handelt
Die TeilnehmerInnen appellieren an die Gewerkschaften, die Friedensbewegung, die antirassistischen Initiativen und alle Teile der Zivilgesellschaft, sich diese Positionen zu Eigen zu machen.

Es ist höchste Zeit Druck auf Israel auszuüben. Das zionistische System Israels wird nicht von sich aus die Rechte der PalästinenserInnen anerkennen. Jeder verzögerte Tag kostet die Vernichtung menschlicher Existenz. Bei allen Initiativen, die unternommen werden, darf nicht der Eindruck entstehen, als handele es sich um einen Konflikt zwischen zwei gleich starken Kontrahenten. Tatsache ist die absolute Übermacht des israelischen Militärs und Staatsapparats über eine fast wehrlose palästinensische Bevölkerung. Ziel muss es sein, Menschen weltweit schnellstmöglich aufzuklären und für die Rechte der PalästinenserInnen zu mobilisieren.

Stuttgart, 10. Dezember 2010

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