Der 86jährige Fotograf arbeitete 40 Jahre im Dienst der Allgemeinen Deutschen Nachrichtenagentur ADN Zentralbild. In dieser Funktion galt es immer, den Protokollauftrag zu erfüllen. Aber die treffendsten Bilder entstanden meist abseits des üblichen Händeschüttelns und abseits des üblichen Blickwinkels. Horst Sturm war Mitgründer der Fotografenorganisation Signum, deren 17 Mitglieder sich gegen klischeehafte Darstellung bei der Auftrags- und Protokollfotografie wandten. Zahlreiche seiner Fotos wurden im Nachrichtenbetrieb abgelehnt, erhielten aber in internationalen Fotosalons Preise und Medaillen. 2009 wurde Horst Sturm zum Ehrenmitglied des Bundesverbandes Arbeiterfotografie berufen. Die Ausstellung ist diesem Anlaß gewidmet.


Der Fotograf Horst Sturm
Ein Bild kann einen Menschen berühren
(erschienen in Unsere Zeit, 16.4.2010)

„Knipsen Sie?“ wurde Horst Sturm hin und wieder gefragt. Seine Antwort lautete: „Nein, ich fotografiere.“ „Auch in bunt?“ „Nein, in Farbe.“ Das Gros seines fotografischen Werkes seit 1949 entsteht auf schwarz-weiß Film und ist ein Votum für die Geltung der Fotografie über den unmittelbaren Gebrauchswert hinaus. Der Fotograf möchte nicht Künstler genannt werden. Wenn der festgehaltene Moment sich aber einprägt und gut erfasst eine beabsichtigte Wirkung erzielt, habe das Produkt dann etwas mit Kunst zu tun, gibt er zu. Fast vier Jahrzehnte wirkte Horst Sturm international als Bildberichterstatter bei ILLUS und später der Allgemeinen Deutschen Nachrichtenagentur ADN-Zentralbild der DDR. Stets wollte er mehr sehen als das Protokoll vorschrieb. Als leidenschaftlicher Bildreporter wollte Sturm nie nur „Terminerfüller“ sein. Vielmehr reizte es ihn, selbst beim Staatsbesuch „das Leben in seiner Vielfalt mit der Kamera einzufangen, Kontakt mit den Menschen zu haben.“ Die von ihm fotografierten Berliner Kohlenmänner vor dem Eintreffen von Nikita Chruschtschow, 1963 in Berlin, sind ein anschauliches Zeugnis dafür.

Einige Bilder rettete Horst Sturm im schnellen Geschäft im wahrsten Sinne aus der Tonne: Die seltene Aufnahme von Brecht und Weigel am 1. Mai 1951 hatte man in der Agentur übersehen. Oder 1950 die Aufnahme vom Protest des berühmten Atomforschers Robert Havemann in West-Berlin, der dem Fotografen bei seiner Festnahme zuruft: „Weil ich gegen die Atombombe bin, werde ich verhaftet“, brachte der Reporter in einem Butterbrot in Sicherheit, nachdem er nach einer einzigen Aufnahme selbst festgenommen und in eine Zelle gesteckt wurde.

Gängigen Bildvorstellungen innerhalb der Agentur versuchte er entgegenzuwirken. Eine Portraitaufnahme von Arnold Zweig umgeben von zuprostenden Händen einer Schar von Gratulanten zum 80. Geburtstag wird von der Agentur ablehnt. In Moskau erhält er als Preis dafür eine Goldmedaille. 1965 gründet er mit anderen die Gruppe Signum, die sich das Ziel setzt: Weg von Schablone und klischeehaften Darstellungen!

Ein Bild kann einen Menschen erschüttern

Zahlreiche Reisen führen ihn zu politischen Konferenzen nach Helsinki und Genf oder mit einem Reportageauftrag über Wochen und Monate in die Mongolei, nach Russland oder in den Nahen Osten. In der Mongolei ist es üblich, als Gast um die Jurte zu reiten, um anschließend als vornehme Köstlichkeit Hammelaugen serviert zu bekommen. Weil alles überall nach Hammel riecht, fällt der begleitende Redakteur bald aus. Horst Sturm ordert bei der deutschen Vertretung eine Kiste Wodka – und macht weiter. Es entstehen eindringliche, fast intime Portraits. „Ein Bild kann einen Menschen berühren, zum Nachdenken bringen, erschüttern...“, sagt er einmal. Das Bild der mongolischen Großmutter, die ihre „schützenden Hände“ um den Kopf des Kindes legt, ist Teil einer durchgängigen Idee um aussagekräftige Hände. Diese Idee trägt der mit aller Bewusstheit am Berliner Kollwitzplatz lebende Bildgestalter mit um die Welt.

Jungen Menschen, die er ausbildet, sagt er immer wieder: „Ich kann euch die Technik beibringen. Aber ob ihr Ideen habt, Phantasie, das müsst ihr nun irgendwie selber erfinden. Ich kann euch nur Beispiele geben.“ Horst Sturms Beispiele haben es in sich. Es sind mit Licht geschriebene Kompositionen, im scharfen Gegenlicht geschwärzte Umrisse des Marktgeschehens am Alexanderplatz, Formgestaltung, Portraitausschnitte unter akzentuierter Einbeziehung von Vorder- oder Hintergrund. Blitzlicht ist tabu: „Das macht alles kaputt.“

Seinen VolontärInnen gibt er nach Feierabend die Kamera mit nach Hause. Was soll die im Schrank, wenn du im nächsten Moment auf der Straße den spannendsten, den alltäglichsten Situationen ausgesetzt bist. „Die Kamera wird erst abjejeben kurz vorm Friedhof“, lautet eine seiner Selbstverständlichkeiten, die er den jungen Menschen mit auf den Weg gibt. „Ein aktiver Bildjournalist..., wird die Kamera nicht beiseite legen. Das Wertvollste, was er besitzt, sind seine Bilder.“

Anneliese Fikentscher


Horst-Sturm-Ausstellung in der jW-Ladengalerie
Die wunderbare Welt des Fotografen
(erschienen in junge Welt, 24.4.2010 - auf Bild-Doppelseite)

Im lebendigen Treiben den Augenblick zu erfassen, den unwiederbringlichen, dem die großen Fotografen dieser Welt von Cartier-Bresson bis Sebastiao Salgado auf den Fersen waren oder es noch sind, das unbeobachtet Vergängliche, wie es dem Arbeiterfotografen Eugen Heilig mit seinen Plattenkamera-Aufnahmen schon im Ersten Weltkrieg gelang (Mobilisierung und Tod in Ypern), dafür schlägt das Herz des heute 86jährigen, immer noch aktiven Fotografen Horst Sturm.

Bereits als junger Schüler begeistert er sich für Fotografie. Als Jugendlicher erlernt er den Beruf des Reprofotografen. Als er nach dem Krieg in seine Heimat Berlin zurückgekehrt ist, macht er auf eigene Faust erste Bildreportagen, die veröffentlicht werden. Das ist der Beginn einer lebenslänglichen Faszination.

Als 26jähriger hat er den Mut, sich in knifflige Situationen hinein zu begeben, hat den schnellen Blick für den Höhepunkt des Geschehens, und auch die technische Qualität sitzt. 1949 wird Horst Sturm mit offenen Armen beim Illus-Bilderdienst von Walter Heilig, dem Sohn des Arbeiterfotografen Eugen Heilig, in Empfang genommen. Vierzig Jahre lang ist er für seinen Auftraggeber, der zuletzt unter ADN-Zentralbild firmiert, rund um die Welt im Einsatz aber auch unmittelbar vor der Haustüre, z.B. dokumentiert er den Bau des Berliner Fernsehturms von der Grundsteinlegung an.

1964 erhält Horst Sturm sein Journalisten-Diplom ehrenhalber. Über 20 Jahre lang ist er zuständig für Ausbildung von Volontären zur Vorbereitung auf das Studium. Bei seiner Begeisterung für das Entdecken einzigartiger Bildwerke widerstrebt es ihm, seine Ideen den Protokollvorschriften zu unterwerfen. Horst Sturm prägt den Begriff „Terminerfüller“. „Terminerfüller“ wollte er nie sein. Das gab er als Mentor an seine „jungen Leute“ weiter: „Wer keine Ideen hat, ist Bildbeamter. Und davon haben wir genug.“ Und noch einen Tipp gibt er mit auf den Weg: „Die Kamera wird nach der Arbeit für den Auftraggeber nicht eingeschlossen. Man muss die Kamera immer dabei haben.“

Anneliese Fikentscher


Eröffnung am 29. April 2010 in der jungeWelt-Ladengalerie in Berlin (Fotos von Senne Glanschneider, Andreas Neumann, Gabriele Senft und Peter Werner)


Laudatio an Horst Sturm zur Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der Arbeiterfotografie
Fotografie - eine Art zu Leben

Vieles über meinen Mentor und Freund Horst Sturm ist in dieser Sonderausgabe der Zeitschrift Arbeiterfotografie nachzulesen. Ich freue mich sehr, dass ich einiges aus der Sicht derjenigen hinzufügen darf, die er als „meine jungen Leute“ bezeichnet. Ich hatte das Glück, ihn 1970/71 bei der Fotoagentur ADN-Zentralbild im Volontariat an meiner Seite zu wissen.

Im Mai 2003 gab es in der Nähe „seines“ Kollwitzplatzes in Berlin Prenzlauer Berg eine Personalausstellung von Horst. Anlass war sein 80. Geburtstag.

Mein Sohn Michael meinte nach dem Betrachten der Bilder zu mir: „Du fotografierst ähnlich.“ Das war ein riesiges, unvergessliches Lob für mich, Lob auch für Horst Sturm, denn es bestätigte mir, dass ich Herangehensweise und Motivation meines Mentors verinnerlicht hatte. Auch ich wollte in meinem Beruf die Wirklichkeit so abbilden wie sie ist, Fotos anfertigen, die als Botschafter zwischen den Menschen fungieren, als Vermittler, Bilder, die berühren und etwas bewirken, weil sie das Geschehen ehrlich aufzeigen.

Wir Volontäre waren zu dritt, und obwohl er in dieser Zeit in der Redaktion keine Sonderstellung als Ausbilder bekam, sondern wie alle anderen Reporter Fotoaufträge im In- und Ausland erfüllte, war Horst immer g a n z für uns da, oft auch nach Feierabend, so dass wir einmal fröhlich in der Kneipe „Zum Cottbuser Postkutscher“ versackten, für mich damals eine ganz neue Erfahrung, dass sich ein Bier und ein Korn nicht gut vertragen… Meine beiden Mitvolontäre bekamen den Auftrag, mich als Kavaliere nach Hause zu geleiten. Wir konnten mit jedem Problem zu ihm kommen. Und er blendete auch sein Privatleben nicht aus. Wir waren ein freundschaftliches Team.

Unser erster praktischer Fotoauftrag lautete, im Straßenverkehr einen Wolga zu fotografieren.

Einen solchen musste ich mir erst mal zeigen lassen, damit ich wusste, was wir suchen sollten. Dann hat es großen Spaß gemacht, originelle Fotolösungen mit Wolga zu entdecken. Es gab Lob oder auch Ermutigung, es noch einmal zu versuchen, wenn das Ergebnis nicht befriedigte. Micha Richter war im Wiederholen und sich Hineinknien für eine optimale Lösung besonders ausdauernd und ein Vorbild. Günther Ludvik, exzellenter Fototechniker, entschied sich, nach dem Journalistikstudium als Wortjournalist zu arbeiten.

Horst erlaubte uns, dass wir im Winter erst um 9.00 h in der Redaktion erscheinen mussten, von manchem Redakteur mit Unverständnis gesehen, doch solch kleine Geste förderte unsere Arbeitsfreude und ließ uns nie auf die Uhr schauen, wenn es zum Feierabend ging.

Seine Ratschläge und Grundsätze waren knapp und einleuchtend und haben sich mir auf immer eingeprägt, so zum Beispiel, dass wir die Kamera beherrschen müssten, wie der Wort­journalist Papier und Stift, oder der Maler Pinsel und Farben. Die Kamera sollte unser ständiger Begleiter sein. Sie ist Voraussetzung für ein Bild und nicht wie häufig von Fotografen verwechselt, schon der Inhalt. Es gilt, mit dem minimal notwendigen Aufwand an Technik bestmöglich die Seele des Ganzen zu erfassen, im eigenen alltäglichen Umfeld (da ist es am schwierigsten, doch auch am spannendsten), unterwegs, auf Reisen und auch im Urlaub. Im Ausland wird ein leidenschaftlicher Fotograf sogar intensiver arbeiten, weil er wacher die Signale des Alltags der anderen erfassen kann. Unseren Familienangehörigen und Freunden wurde viel Verständnis abverlangt, wenn es galt, bei Unvorhergesehenem spontan zu reagieren. Horst hatte in seiner Ehefrau Marion eine ihn darin anspornende Lebenspartnerin. Wichtig für authentische Fotos ist es, immer das natürliche Licht zu nutzen, daran zu denken, dass Fotografie Malen mit Licht bedeutet, also den Blitz nur im äußersten Fall dazu zu nehmen. Es hilft, Ruhe zu bewahren und den Prozess des Ablaufes konzentriert zu beobachten, um die wesentlichen Höhepunkte erfassen zu können. Ein Geschehnis, über das wir berichten möchten, wird mehrere solcher wichtigen Momente haben und auch verschiedene Sichtmöglichkeiten, so dass es nicht unbedingt nötig ist, sich mit anderen Reportern um d e n Standort zu drängen. Wir wurden durch sein Vorbild angehalten, mit Respekt und Ernsthaftigkeit dem Gegenüber zu begegnen, Situationen nicht zu stören, um sie nicht nachbauen zu müssen, bzw. keine solchen selbst zu erfinden.

Von seinem Kampf gegen gestellte Fotos in der Pressefotografie ist auch in dem vorliegenden Sonderheft zu lesen.

Ich kann mich daran erinnern, wie mein Mentor sich für mich einsetzte, dass ein Foto von den ersten Schritten meines Sohnes veröffentlicht wurde. Die Redakteure hatten es als zu persönlich angesehen, aber Horst ermutigte mich darin, andere von der Allgemeingültigkeit des Momentes zu überzeugen.

Er hat uns auch nach abgeschlossener Ausbildung und Rückkehr vom Studium den Rücken frei gehalten und geholfen, wenn es berufliche Schwierigkeiten gab.

Horst Sturm hat sich nie als Künstler gesehen und Fotografien nicht wie Trophäen gesammelt. Dennoch hat er uns dazu angeregt, Fotos zu Wettbewerben einzuschicken und auszustellen. Ehrungen und Preise seien wichtig als Echo, als Bestätigung, dass die Botschaft verstanden wurde und eine Hilfe, unsere Fotos richtig bewerten zu lernen.

Es ging und geht Horst immer um Wahrhaftigkeit, um das Aufzeigen von Menschlichkeit.

Seine Fotos, die uns in diesem Heft und in der Ausstellung ansprechen, waren auch für mich Wegbegleiter, einprägsame Lehrbeispiele, Freunde:

Licht und Schatten im Bild mit den Kohlenmännern beim sowjetischen Staatsbesuch – Mut, a l l e s und nicht nur das Vorgegebene festzuhalten – Einfühlsamkeit bei Porträts wie denen von Anna Seghers und Arnold Zweig – Mut zum eigenen Urteil über ein Foto wie bei dem Beispiel des so große Lebensfreude ausstrahlenden „Vater, nimm die Geige“, dass nur durch Stehvermögen von Horst eine Veröffentlichung fand – das Che-Porträt – das Foto „Brecht- und Weigel am 1. Mai“, dass andere übersehen hätten – das Agieren der Hände – das sich bewusste Engagieren für Menschen, die sich für Frieden einsetzen, z.B. bei antifaschistischen Veranstaltungen wie in Buchenwald. Das alles ist für mich beispielgebend.

Beide stimmen wir darin überein, uns nach den Maximen von Henri Cartier Bresson zu richten: Beim Fotografieren müssen Kopf, Auge und Herz auf eine Ziellinie gebracht werden. Fotografieren ist eine Art zu leben.

Walter Heilig, Sohn des großen Arbeiterfotografen Eugen Heilig und nach dem 2. Weltkrieg Chef des „Illus-Bilderdienstes“ in Berlin, schlug Horst Sturm damals vor, als Fotoreporter zu arbeiten.

Zufällig war es auch Walter Heilig, der mich 1970 mit einem Gespräch auf meinen Berufsweg bei der Fotoagentur brachte. Wir hielten bis zu seinem Tod 2006 freundschaftlichen Kontakt.

2005 nahm ich gemeinsam mit Walter Heilig und seiner Ehefrau Monica das Angebot der Arbeiterfotografen an, ihre Reihen als Ehrenmitglied zu stärken. Das war eine hohe Ehre für mich, doch ich wünschte mir sehr, dass Horst Sturm diese Ehrung, wenn schon nicht vor mir, dann doch sobald als möglich ebenfalls zuteil würde. Von ihm hatte ich doch zuerst von den Arbeiterfotografen und der A.I.Z. erfahren. Er fühlte und fühlt sich immer ihrer Tradition verpflichtet.

Gerade erlebte ich in Erfurt als Fotojournalistin für die „junge Welt“ ein bewegendes Jubiläumskonzert der nun 35 Jahre bestehenden Rockgruppe „KARAT“. Sie spielten auch das Lied „Der blaue Planet“, das in der DDR beim „Rock für den Frieden“ im Palast der Republik uraufgeführt wurde, eine Liebeserklärung und Aufforderung für jeden, die Verantwortung für den Weltfrieden zu übernehmen. Das Ehrenmitglied des Verbandes der Arbeiterfotografen Walter Heilig hatte sich diesen Song bei seiner Trauerfeier als Abschiedslied gewünscht. Es war sein Lebensmotto.

Viele Freunde und Kollegen von ADN Zentralbild, unserer gemeinsamen ehemaligen Wirkungsstätte, trafen sich bei der Beisetzung von Walter. Horst Sturm sagte mir anschließend, er wünschte sich freudigere Anlässe für unser Wiedersehen. Der Tag der Ausstellungseröffnung und Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der Arbeiterfotografie an Horst Sturm ist so ein Glückstag. Von ganzem Herzen Danke, lieber Horst, dass Du diese Ehrung entgegen nimmst.

Gabriele Senft

Horst-Sturm-Sonderheft der Zeitschrift Arbeiterfotografie