Operation Nordafrika
Was in Libyen zerstört wird
Werner Rügemer - 25.6.2011 - in Ossietzky, Ausgabe 13/2011

Jahrzehntelang förderte die »westliche Wertegemeinschaft« die nordafrikanischen Diktaturen in Ägypten, Tunesien, Jemen und Marokko. Westliche Unternehmen konnten frei investieren, die kollaborierenden Diktatoren bereicherten sich selbst und legten ihre Privatvermögen in Zürich, London und New York an; westliche Geheimdienste und Stiftungen waren aktiv, westliche Polizei- und Militärberater brachten die Unterdrückungsapparate auf westlichen Standard. In den Staaten, in denen Anfang des Jahres Proteste stattfanden, werden nun ein paar Führungsfiguren ausgetauscht. Die Verhältnisse sollen mit ein bißchen mehr parlamentarischer Tünche und westlichen Mobilfunknetzen und facebook so bleiben wie bisher. Vor allem soll der Lohn niedrig bleiben und keine weitere Unruhe aufkommen.

Dagegen galt der libysche Staatschef Gaddafi von Anfang an als Terrorist, Verrückter, Spinner, sein Staat als Schurkenstaat. Was war die Verrücktheit und Schurkerei des exzentrischen und teilweise unberechenbaren Gaddafi gewesen? Er hatte 1969 – neben Nasser in Ägypten – als zweiter ein feudales Regime gestürzt, nämlich das des britenfreundlichen libyschen Königs Idris I., der alle Parteien und Gewerkschaften verboten hatte. Im Unterschied zu den benachbarten Diktatorenclans bereicherte Gaddafis Regime im wesentlichen nicht sich selbst, sondern modernisierte das Land, steckte die Erlöse aus Öl und Gas in kostenlose Bildung für alle und in eine Art Sozialstaat.

2004 strich Washington Libyen von der Liste der »Schurkenstaaten«, die Europäische Union hob das Embargo auf. Die westlichen Konzerne konnten zurückkommen. Libyen dehnte seinen Außenhandel aus. Die 2006 gegründete Libyan Investment Authority (LIA) und die libysche Zentralbank investierten weltweit etwa 150 Milliarden Dollar, wie es auch andere staatliche Investmentfonds aus dem arabischen Raum tun. So ist der Staat bisher an etwa 100 westlichen Banken, Holdings, Industrie- und Ölfirmen beteiligt, zum Beispiel in Italien an der Bank Unicredit, an Finmeccanica, am Erdöl- und Energiekonzern ENI und auch am Fußballclub Juventus Turin.

Hinzu kam, und nun sind wir beim Kern der Sache, die Libysch-Arabisch-Afrikanische Investmentgesellschaft, die in 22 afrikanischen Staaten Bergbau-, Tourismus- und Verarbeitungs-Projekte fördert. So wurde 2010 auch der erste Telekommunikationssatellit der Regional African Satellite Communication Organization (RASCOM) realisiert: Afrika will unabhängig vom teuren und geheimdienstlich kontrollierten westlichen Satellitensystem werden. Dazu kommen die Afrikanische Entwicklungsbank (Sitz Tripolis), der Afrikanische Währungsfonds (Sitz Kamerun) und die Afrikanische Zentralbank (Sitz Nigeria): Das wäre die Befreiung von Weltbank und Weltwährungsfonds und vom französischen »CFA-Franc«, den die ehemalige Kolonialmacht Frankreich bis heute den ehemaligen Kolonien aufzwingt. (Die Abkürzung stand früher für Colonies francaises d’Afrique; inzwischen wurde sie geschmeidig mit anderen Begriffen gefüllt: Communauté Financière d’Afrique.)

Schließlich plant Libyen seit 1974 das größte Wasserprojekt der Welt: 35.000 Millionen Kubikkilometer reinsten Wassers lagern unter der libyschen Wüste, sie sollen nicht nur die Landwirtschaft im libyschen Norden versorgen, sondern auch in den Nachbarstaaten Sudan, Ägypten und Tschad. Im September 2010 wurde der erste Großabschnitt des Projekts eröffnet, zahlreiche Farmen werden bereits bewässert. Auch diese unabhängige Wasser- und Landwirtschaft ist dem Westen verhaßt, die Konzerne setzen auf teure Meerwasserentsalzung und auf den Nahrungsmittel-Import.

Außerdem sucht der Westen nach möglichst günstigen Bedingungen für das Mega-Solarprojekt »Desertec«.

Deutsche Medien aber hetzen gegen den Spinner, Schurken, Verrückten Gaddafi, die Einzelperson. Die inzwischen von den westlichen Regierungen fortgesetzte Konfiskation des »Gaddafi-Vermögens« betrifft zum allergrößten Teil Staatsvermögen.

Aufständische und regimekritische Bewegungen können bekanntlich von der »westlichen Wertegemeinschaft« entweder als böse Terroristen oder als gute Rebellen eingestuft werden – je nach wechselnden Umständen. Das erging den Taliban genauso wie dem inzwischen von seinen ehemaligen Sponsoren ermordeten Osama bin Laden. Die Aufständischen im libyschen Bengasi könnten leicht als Terroristen durchgehen, diesmal sind sie aber (noch) Rebellen. Bengasi ist ihre gefeierte »Hochburg«, weil hier das Gebiet des abgesetzten König Idris und seiner sufistischen Religionsgemeinschaft ist. Nach seiner Absetzung hielten der CIA und andere westlich-demokratische Institutionen engen Kontakt mit diesem Clan und steuern nun die »Rebellen«.

Nachdem die US-Vasallengemeinschaft im UNO-Sicherheitsrat erst einmal eine Resolution erwirkt hatte, um »zum Schutz der Zivilbevölkerung« in Libyen militärisch eingreifen zu können, machte sie klar, daß dies nur der Türöffner für die eigentliche Operation war: die »Rebellen« bewaffnen, den Bürgerkrieg organisieren, Gaddafi töten, regime change. Dafür werden nicht nur Regierungs- und Militärsitze bombardiert, sondern auch Städte und Versorgungseinrichtungen, und die Bomben töten auch Kinder. Die Rechtsbrecher bringen die Menschenrechte! Gleichzeitig wird der mächtigste und korrupteste Kollaborateur der Region, Saudi-Arabien, unterstützt, damit er sein feudales Selbstbereicherungsregime beibehält und die Aufständischen im benachbarten Bahrein mit US-Hilfe militärisch niederschlägt.

Wenn nun die US-Außenministerin Clinton und der deutsche Außenminister Westerwelle sich in Bengasi die Klinke beim völkerrechtswidrig anerkannten »Nationalen Übergangsrat« in die Hand geben und sich mit Waffenlieferungen und Geldspenden übertrumpfen, dann fördern sie einen wilden, gut gesteuerten Haufen, der als weiterer Türöffner zur neoliberalen Interventions- und Ausbeutungsordnung dient. Wenn sie die Demokraten wären, als die sie sich ausgeben, hätten sie jetzt andere Sorgen: die Selbstbestimmung und den Wohlstand der libyschen Bevölkerung zu erhalten, Gaddafi hin oder her – wir in Europa können uns auch nicht aussuchen, welcher Kriegsherr in den USA zum Präsidenten gewählt wird.

Wenn kritische Medien zur Abservierung von Dominique Strauss-Kahn als Chef des Internationalen Währungsfonds nun über die Sexbesessenheit dieses Bankers und die Männerdominanz in Politik und Wirtschaft tiefsinnige Reflexionen anstellen, dann sollten wir bedenken: Strauss-Kahn sympathisierte mit dem Ende des Dollars und einer neuen Leitwährung, den Sonderziehungsrechten der Weltbank. Rußland, China und andere Staaten zogen mit, auch die libysche Regierung. Auf dem G8-Gipfel in Deauville Ende Mai 2011 sollte darüber gesprochen werden. Aber mit dem Ende Strauss-Kahns im IWF und der Bombardierung Libyens ist der Dollar des führenden Folter-, Bankster- und Schuldenstaats (erst einmal) wieder gerettet.

Wie lange sollen abgehalfterte westliche Politiker wie Obama, Merkel-Westerwelle, Sarkozy, Berlusconi ihre selektive Menschenrechtspolitik in Libyen fortführen dürfen? Wieviele Bomben müssen noch fallen, wie lange soll der Bürgerkrieg noch angeheizt werden, bevor die Demokratie endlich den Westen selbst einholt und der nächste Schritt getan wird: Waffenstillstand!


Von Heinrich Hannover und Sevim Dagdelen bis zu Konstantin Wecker reicht inzwischen die Liste der Unterzeichner des in Ossietzky 12/11 veröffentlichten Aufrufs »Frieden für Libyen! Solidarität mit dem libyschen Volk!«


Weitere Artikel zu Nordafrika:
Manifestation für Libyen und die Einhaltung des Völkerrechtes
Kundgebung gegen den völkerrechtswidrigen Krieg der NATO–Staaten in Libyen - alle vierzehn Tage an der Berliner Weltzeituhr - 30.5.2011

Alle Beiträge zu Nordafrika im Überblick:
Libyen - Bundesverband Arbeiterfotografie gegen jedes militärische Eingreifen
Erklärung vom 6.3.2011
Wie billig wird libysches Öl?
Gerd Bedszent in Ossietzky 5/2011, 05.03.2011
Libyen und der Imperialismus
Sara Flounders, International Action Center, New York, in 'junge Welt', 01.03.2011
Die Protestbewegung in Ägypten: 'Diktatoren' diktieren nicht, sie folgen Befehlen
Michel Chossudovsky - 28.01.2011
Schauspiel in drei Akten
Betrachtung zu den Vorgängen in Tunesien, Ägypten und Libyen von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann - 10.3.2011
Libyen: Greueltaten erfunden
Rainer Rupp am 09.03.2011 in 'junge Welt' über die angebliche Bombardierung von Demonstranten und andere Hintergründe der Kriegspropaganda
Was wird aus Libyen?
Dass dort ein Volksaufstand gegen einen 'grausamen Diktator' stattfindet, der im Namen der Demokratie gestürzt werden muss, ist als Antwort zu einfach - von Hans-Jürgen Falkenhagen und Brigitte Queck - 22.02.2011
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Offener Brief der Mütter gegen den Krieg Berlin-Brandenburg an Lothar Bisky wegen dessen Zustimmung für eine so genannte Flugverbotzone über Libyen - 10.03.2011
Hände weg von Libyen!
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Appell des Bundesverbands Arbeiterfotografie vom 21.3.2011
Libyen: "Bomben sind keine Lösung"
Anzeige gegen den Krieg gegen Libyen - erschienen am 13.4.2011 im Kölner Stadt-Anzeiger und der Kölnischen Rundschau
Libyen: Überlegungen über den drohenden 'Preis der Freiheit'
Joachim Guilliard, 9.4.2011
UNO-Rede von Muammar al-Gaddafi 2009
Komplettes englischsprachiges Transkript der Rede des Revolutionsführer Libyens, gehalten bei der UNO-Vollversammlung am 23.9.2009
Den Krieg in Libyen verstehen - Was sind die wahren Ziele der USA?
Michel Collon, 8.4.2011 - aus dem französischen
Was ist los mit der Berichterstattung über Syrien?
Öffentliche Erklärung und Aufforderung von Samar Shahin (Lattakia / Syrien)
Der Plan zur Destabilisierung Syriens - Durch eine Koalition von Staaten unter Koordination der USA organisiert
Von Thierry Meyssan
Frieden für Libyen! Solidarität mit dem libyschen Volk!
Aufruf zur Beendigung des Libyen-Kriegs
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Werner Rügemer - 25.6.2011 - in Ossietzky, Ausgabe 13/2011
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Eine Untersuchung von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann anhand eines IMI-Artikels von Jürgen Wagner - 31.8.2011
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Fulvio Grimaldi kommt im Oktober 2011 nach Deutschland und zeigt seinen Dokumentarfilm über die jüngsten Entwicklungen in den arabischen Ländern Nordafrikas und speziell über den Krieg der Nato gegen Libyen
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Freidenker-Brief Nr. 2/2012 vom 6.6.2012
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Appell des Bundesverbands Arbeiterfotografie, 25.12.2012
Mit den letzten Atemzügen der Hoffnung
Appell des Bundesverbands Arbeiterfotografie vom 6.2.2013 zum Angriff Israels auf Syrien
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Appell des Bundesverbands Arbeiterfotografie vom 25.12.2013