Drohender Kriegsschauplatz Iran
Auf dem Weg zum Höhepunkt der Kriegspropaganda
Eine Betrachtung von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann über den 'Spiegel' vom 29.5.2006 und das darin enthaltene Interview mit dem iranischen Präsidenten


'Der Spiegel', 29.5.2006

Generelle Einschätzung der Spiegel-Ausgabe mit dem Ahmadinedschad-Interview:
  • Ziel der Spiegel-Ausgabe ist die Intensivierung des Feindbildes Iran (Der iranische Präsident wird als derjenige dargestellt, "vor dem die Welt sich fürchtet", als "Weltfeind Nummer Eins")
  • Indem der Iran als die Haupt-Bedrohung dargestellt wird, soll von der Bedrohung, die vom US-Imperium ausgeht, abgelenkt werden.
Einschätzung des Ahmadinedschad-Interviews hinsichtlich dreier Hauptfragen:
  • Judenvernichtung: Ahmadinedschad äußert nirgends, daß es ihm darum ginge, 'die Juden' oder den 'jüdischen Staat' Israel (mit seinen Menschen - wie oft suggeriert wird) zu vernichten
  • Antisemitismus: Ahmadinedschad sagt nichts, womit er Juden (als Ethnie, Religionsgemeinschaft, oder wie auch immer) abwertet oder als minderwertige Menschen einstuft (gemäß unserer Antisemitismus-Definition)
  • Holocaust-Leugnung: Ahmadinedschad operiert mit dem Begriff 'Holocaust' in einer Weise, daß nicht klar wird, ob er es tatsächlich für eine Möglichkeit hält, daß der Holocaust nicht stattgefunden hat (Irving und Zündel werden vom 'Spiegel' genannt, nicht von Ahmadinedschad. Ahmadinedschad antwortet in diesem Zusammenhang ausweichend.)
Weitere Anmerkungen zum Ahmadinedschad-Interview:
  • Der 'Spiegel' versucht, Ahmadinedschad in die Ecke von Holocaust-Leugnern zu drängen. Ob dieses Unterfangen als gelungen oder mißlungen anzusehen ist, bleibt Ermessenssache.
  • Unserer Meinung nach geht es Ahmadinedschad nicht darum, den Holocaust zu bestätigen, anzuzweifeln oder zu leugnen, sondern darum, deutlich zu machen, daß es die Täter sind, die den Preis für das (an den Juden, aber nicht nur an den Juden begangene) Verbrechen zu bezahlen haben und nicht andere unbeteiligte Völker.
  • Ahmadinedschad sagt bezogen auf den Holocaust: "Wer trägt die Schuld daran? Die Antwort darauf muss in Europa gefunden werden und nicht in Palästina. Es ist doch ganz klar: Wenn der Holocaust in Europa passiert ist, dann muss man die Antwort darauf ebenfalls in Europa finden." Das ist unserer Meinung nach eine der zentralen Fragen im Interview, über die nachzudenken nicht verboten sein darf. Sicherlich gäbe es keine Veranlassung für diese Frage - auch für Ahmadinedschad nicht - wenn Israel nicht das Ziel verfolgen würde, die Palästinenser aus ihrem Territorium zu verdrängen. Aber das ist leider anders (Ellen Rohlfs: 'Schleichender Völkermord'). Deshalb müssen wir vorrangig eine Antwort auf die Frage finden, wie wir Druck auf Israel (und die mit diesem Staat untrennbar verbundenen USA) ausüben können, um diesem Verhalten ein Ende zu setzen. Wenn wir Auffassungen verurteilen, wonach Israel an einen anderen Ort verlagert werden soll, müssen wir die Verdrängung der Palästinenser zumindest genauso verurteilen. Wir dürfen nicht das eine verurteilen und auf der anderen Seite die stattfindende Vertreibung tolerieren. Ein Existenzrecht hat Israel nur dann, wenn auch die Palästinenser ein Existenzrecht haben.
  • Das Interview ist ein Streitgespräch, bei dem es Ermessenssache bleibt, wer überzeugender wirkt. Mittels des Kontextes soll dieser Eindruck zuungunsten Ahmadinedschads beeinflußt werden. Unserer Meinung nach gelingt es Ahmadinedschad trotz des deutlich spürbaren Versuchs, ihn in die Ecke zu drängen, seine zumindest in Teilen berechtigte Auffassung überzeugend vorzutragen.
  • Selbst wenn das Interview ein Beleg für Antisemitismus und Holocaust-Leugnung wäre - was unserer Meinung nach nicht der Fall ist - dürften wir uns nicht das Thema vom 'Spiegel' und den anderen Kriegspropagandisten des US-Imperiums diktieren lassen und zum Multiplikator beim Entstehen des Feindbildes Iran werden.
Das Interview wird in einen Kontext gerückt, für den folgendes zu bemerken ist:
  • Es werden mehrere Bilder vom KZ Auschwitz abgedruckt, um den Eindruck zu erwecken, Ahmadinedschad habe Zweifel an dessen Existenz
  • Es werden Bilder von der Interview-Situation abgedruckt, die Ahmadinedschad im Verhältnis zu den Spiegel-Redakteuren extrem klein erscheinen lassen, um damit deren (moralische) Überlegenheit zu suggerieren
  • Das Titelbild zeigt Ahmadinedschad in einer eher ungünstigen Lichtsituation und läßt ihn einäugig nach links blicken, um ihn als jemanden erscheinen zu lassen, der rückwärts gewandt denkt und handelt
  • Titelseite, Editorial und der Artikel im hinteren Teil der Spiegel-Ausgabe beschreiben Ahmadinedschad alles in allem als den Feind, den es zur Zeit vorrangig zu bekämpfen gilt.
Bezüglich des Interviews bleibt zu klären:
  • inwieweit das veröffentlichte Interview tatsächlich dem geführten Gespräch entspricht
  • ob auch die Fragen tatsächlich so gestellt wurden, wie sie veröffentlicht sind
  • in welcher Sprache das Interview geführt wurde, ob Dolmetscher eine Rolle gepielt haben und ob dies zu Verfälschungen geführt haben kann
  • was es bedeutet, wenn im Editorial ausgeführt wird, daß das Interview "mit geringen sprachlichen Korrekturen" veröffentlicht ist
Quintessenz: die Spiegel-Ausgabe ist insgesamt betrachtet ein Beispiel für Kriegspropaganda im Sinne des US-Imperiums. Mit seriösem Journalismus hat das nichts zu tun. Deshalb sollten sämtliche Inhalte mit äußerster Vorsicht betrachtet und in keinem Fall zur unreflektierten Beurteilung der Realität herangezogen werden.

Sicherlich: Ahmadinedschad operiert mit dem Begriff Holocaust. Und eine Reihe von Aussagen in der Form, wie der 'Spiegel' sie wiedergibt - erscheinen zumindest in Kombination mit den Fragen - bedenklich. Dennoch: der 'Spiegel' mit dem Interview ist ein Hinweis darauf, daß der propagandistische Vorlauf für einen Krieg gegen den Iran allmählich zu seinem Höhepunkt gelangt.

Es gibt allerdings Stimmen, die die Dinge deutlich anders beurteilen. Ein Beispiel aus der Anti-Nazi-Szene: "Nach der Lektüre des Interviews mit Mahmud Ahmadinedschad im aktuellen Spiegel ist nun auch für mich die Sache endgültig klar. Ich gebe zu, ich habe es in der Tat für denkbar und sogar nicht für unwahrscheinlich gehalten, daß gezielt versucht wird, Ahmadinedschad in einem besonders dämonischen Licht erscheinen zu lassen, um auf diese Weise anschließend um so besser Krieg gegen Iran führen zu können. Das halte ich jetzt für einen deutlichen Fehler. Möglicherweise gibt es dieses Interesse westlicher Medien auch wirklich. Aber das ist völlig gleichgültig angesichts der eindeutig massiv antisemitischen, den Holocaust leugnenden und den Staat Israel grundsätzlich in Frage stellenden Äußerungen, die er in diesem Interview macht. Äußerungen der Art, wie sie A. hier macht, kann und braucht niemand zu erfinden oder zu verfälschen. Sie sind eindeutig. Gegen solche Äußerungen müssen wir uns ohne jeden Kompromiß abgrenzen und sie in aller Schärfe verurteilen. Selbst wenn alles stimmt, was an Manipulationsversuchen mit Redetexten A.'s versucht worden sein soll - dieses Interview allein bestätigt die schlimmsten Vorwürfe an seine Adresse."

Dagegen kommt Thomas Immanuel Steinberg (SteinbergRecherche.com) zu einer ganz anderen Einschätzung des Interviews: "Ahmadi Nedschad benutzt die Frage nach der Realität des Holocaust, um zum Beispiel die drei Spiegel-Redakteure als scheinheilig zu entlarven. Ich finde, ihm ist das vorzüglich gelungen. Er zeigt..., daß Deutsch-Europa die Folgen der Vernichtung der europäischen Juden nie tatsächlich auf sich genommen hat und weiterhin nicht auf sich nehmen will; vielmehr diese Folgen sogar dafür instrumentalisiert, den Nahen Osten unter westlichem Joch zu halten."

Wie sind diese extrem unterschiedlichen Bewertungen zu erklären?

Hat das etwas mit der 'Fähigkeit' zum Ausblenden zu tun, wie es Micha Brumlik vom Fritz-Bauer-Institut vorexerziert hat, indem er dafür gesorgt hat, daß das bereits bei Suhrkamp erschienene Buch 'Nach dem Terror' des Philosophen Ted Honderich wieder vom Markt genommen wurde, der es gewagt hatte, das Verhalten der Palästinenser, die er als die 'Juden der Juden' bezeichnet, mit den Worten zu rechtfertigen: "Sie hatten ein moralisches Recht, das dem moralischen Recht etwa der afrikanischen Menschen in Südafrika gegenüber ihren weißen Sklavenhaltern und dem Apartheidstaat in nichts nachsteht." Und der es gewagt hatte zu schreiben: "So wie die Dinge liegen, wurde der Zionismus zu Recht von den Vereinten Nationen als rassistisch verurteilt."

Oder hat das etwas mit dem zu tun, was wir in einem Artikel der 'Jüdischen Allgemeinen' vom 21.7.2005 mit dem Titel 'Antisemitismus als Lehrangebot an der Universität Leipzig' über den Philosophen Georg Meggle finden, der den 'Imperialismus des Westens', die 'Israelische Präventiv-Mord-Stategie' und Fragen wie: 'Kann Terrorismus gerecht, moralisch rechtfertigbar sein? Unter Umständen gar geboten?' thematisiert, der seinem Kollegen Ted Honderich und dem Holocaust-Überlebenden Hajo G. Meyer, der scharfe Kritik an der Politik Israels übt und vom Holocaust als Ersatzreligion spricht, ein Forum gegeben hat? Die 'Jüdische Allgemeine' bezeichnet die Vorlesungen zu diesen Themen als Propagandaveranstaltungen, in denen keinerlei wissenschaftlicher Beitrag zu sehen sei, und verunglimpft den Holocaust-Überlebenden Hajo G. Meyer als "einen alten, wirren Juden".

Die Auseinandersetzung um die Äußerungen des iranischen Präsidenten ist zu einem ganz wesentlichen Teil auch eine Auseinandersetzung um ein Tabu-Thema: die Verdrängungspolitik Israels gegenüber den Palästinensern.

Wenn wir Zweifel am Holocaust bzw. dessen Leugnung verurteilen, dann müssen wir auch das weitgehende Ignorieren und damit Leugnen des seit Jahrzehnten bis zum heutigen Tage stattfindenden (schleichenden) Völkermords an palästinensischen Männern, Frauen und Kindern verurteilen. Wenn wir Antisemitismus verurteilen, dann müssen wir auch das Behandeln von Menschen als Menschen zweiter Klasse, also den Antisemitismus gegenüber den Palästinensern verurteilen. Den Holocaust können wir nicht mehr rückgängig machen. Aber das, was mit den Menschen in Palästina geschieht, können wir noch stoppen.


(Das Interview ist im Netz auf deutsch und englisch kostenlos abrufbar. Auf der deutschsprachigen Seite ist zusätzlich ein kurzer Propaganda-Film als Video abrufbar.)


Weiterer Beitrag zum drohenden Kriegsschauplatz Iran:
War is Brewing - Krieg braut sich zusammen...
Das Kapital verlangt von der US-Regierung irgendeinen Angriff zur Stabilisierung des Kapitalismus - Betrachtung von Daniel Neun (0815-Info), 22.6.2006

Alle Beiträge zum Iran im Überblick:
Tagebuch Iran
Notizen aus dem Kontext des drohenden Krieges gegen den Iran
Die 'Welt', ein 'genialer Netzwerker' und der Angriffskrieg gegen den Iran
Anmerkungen zu einem Artikel in der 'Welt', 12.2.2006
"Den Terroristen in den Regierungen unserer so genannten zivilisierten Welt das Handwerk legen"
Rede von Bernd Klagge am 8.2.2006 im Rahmen einer Mahnwache des Bonner Friedensbündnisses gegen Propaganda und Krieg und für Völkerfreundschaft auf dem Münsterplatz in Bonn
Was die Kriegspropagandisten von sich geben
Äußerungen von Angela Merkel, George W. Bush, John McCain, Joseph Lieberman, Donald Rumsfeld, Condoleezza Rice, John Bolton, Ehud Olmert (Stand: 29.4.2006)
US-Dollar oder 'Mini-Nukes' - Der Iran plant Öl-Börse auf Euro-Basis, was Milliardenverluste für die USA bedeuten kann
Betrachtung von Dietrich Zeitel auf der website der Staats- und Wirtschaftspolitischen Gesellschaft e.V. Hamburg (swg), 25.02.2006
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Internationaler Appell - Online-Petition
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Ein Aufruf der 'Kooperation für den Frieden' (Zusammenschluss verschiedener Friedensorganisationen) und des Bundesausschusses Friedensratschlag - veröffentlicht in der 'Frankfurter Rundschau' am 18.3.2006
Israel, Iran und die Atomwaffen
Knut Mellenthin in 'junge Welt' vom 19.10.2005
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Über die angeblichen Äußerungen des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad, 9.3.2006 (zuletzt erweitert am 9.4.2006)
Bomben auf den Iran? - Gedanken zum Iran-Krieg
Artikel von Prof. Georg Meggle, 18.1.2006
Kriegspropaganda für die Massen - Feindbild Iran
Veröffentlichungen aus 'Bild' und 'Bild am Sonntag' ab Dezember 2005
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Eine Analyse der Medienrhetorik auf dem Weg zum Krieg gegen den Iran, 3.4.2006 (erweitert am 9.4.2006)
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Über die Funktion eines Horst Mahler in der kriegsvorbereitenden Propagandakampagne gegen den Iran, 14.4.2006
DOES IRAN'S PRESIDENT WANT ISRAEL WIPED OFF THE MAP AND DOES HE DENY THE HOLOCAUST?
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Wie die 'taz' den Planungen der USA für einen Atomkrieg gegen den Iran begegnet, 22.4.2006
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Der Brief des iranischen Präsidenten, Mahmud Ahmadinedschad, an den Präsidenten der USA, George W. Bush, von Anfang Mai 2006 und die Reaktionen darauf
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Über die Rolle einer von Nazis angemeldeten Pro-Iran-Demo am 17.6.2006 in Frankfurt-Sachsenhausen
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Strafanzeige gegen die Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, wegen Beleidigung des Staatspräsidenten des Iran
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